Auf die Frage nach dem Gesundheitszustand ihres Mannes antwortet Birsen Kaya Altinörs schnell, dass sie eins bitte nicht wolle: Mitleid. „Die Situation ist nicht neu für uns, ich war selbst in den Jahren 1997 und 2007 für je drei Monate in Haft und habe bei meiner ersten Haft auch Folter erlebt“, sagt sie. Ihr Mann sei zuvor schon dreimal in Haft gewesen. „Jeder, der in der Türkei das Regime kritisiert, muss mit Repressionen rechnen, jeder weiß, dass er im Gefängnis landen kann.“ Ihre Worte tönen hart, die ganze Frau, die während des Videogesprächs in einer Wohnung in Ankara sitzt und nie zu blinzeln scheint, wirkt unerschrocken und kämpferisch.
Ihr Mann Alp Altinörs, der stellvertretender Co-Vorsitzender der kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) war, ist im Mai 2024 im sogenannten Kobane-Prozess zu 22,5 Jahren Haft verurteilt worden. „Es geht ihm gesundheitlich ganz gut“, sagt seine Frau. Einmal pro Woche könne sie ihn vor einer Scheibe sehen und mit ihm sprechen, einmal wöchentlich zehn Minuten mit ihm telefonieren, einmal im Monat gebe es einen offenen Besuchstag. Dann komme oft ihr gemeinsamer Sohn mit ins Gefängnis. Tuncay ist elf und hat seinen Vater zuletzt in Freiheit erlebt, als er sechs war. „Es kann sein, dass Tuncay seinen Vater erst wieder zu Hause erlebt, wenn er erwachsen ist“, sagt sie. „Der ganze Prozess war eine Farce. Mein Mann und Dutzende andere HDP-Politiker haben zum Protest aufgerufen, weil der terroristische Islamischen Staat (IS) Kobane eingekesselt hatte – und sie wurden alle wegen des Vorwurfs verurteilt, Terroristen zu sein und einen Völkermord zu unterstützen.“ Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hielt die Urteile für ungerecht und forderte die Freilassung zahlreicher Inhaftierter.
Maßgeblich begründet wurden die Haftstrafen mit dem Teilen von Tweets aus dem September 2014, in dem es hieß, dass die Lage in Kobane äußerst kritisch sei. „Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und das Embargo der (türkischen) AKP-Regierung zu protestieren“, hieß es in der Twitter-Nachricht wörtlich. Als Erdogan den Islamischen Staat vor zehn Jahren in Kobane gewähren ließ – mutmaßlich, um seinem Ziel der Vertreibung der Kurden aus der Grenzregion näherzukommen – breitete sich der Konflikt in der ganzen Türkei aus: In verschiedenen Städten kam es zu Straßenschlachten mit kurdischen Gruppen und der Polizei, bei denen viele Menschen starben.
Die folgende Offensive der türkischen Armee gegen kurdische Stellungen in Nordsyrien im Jahr 2015 hatte einen neuen Höhepunkt in dem seit vielen Jahrzehnten bestehenden Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK bedeutet. Spätestens diese Offensive markierte eine Wende in der Kurden-Politik von Präsident Erdogan, der sich zuvor als erster Regierungschef um eine politische Lösung der Auseinandersetzung bemüht hatte. Er ließ kurdischsprachige Radio- und Fernsehsender zu. Seine Regierung führte Friedensverhandlungen mit der PKK und investierte viel Geld in die Wirtschaft im kurdisch geprägten Südosten des Landes. Den erstmaligen Einzug der prokurdischen Partei HDP ins türkische Parlament im Juni 2015 betrachteten viele Kurden als Aufbruch in eine gerechtere Zukunft. Inzwischen ist die HDP aus Angst vor einem Verbot in einer anderen Partei aufgegangen. Die meisten ihrer führenden Köpfe sind im Gefängnis. Bis heute greift die türkische Armee Stellungen der Kurdenmiliz YPG im Nordosten Syriens an.
Alp und Birsen Altinörs sind keine Kurden, sondern Schwarzmeertürken. Trotzdem gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der prokurdischen HDP. Für Birsen Altinörs ist das kein Widerspruch. „Viele Türken setzen sich für die HDP und ihre Nachfolgepartei DEM ein – es geht uns um Gerechtigkeit zwischen den Völkern und Ethnien, und vor allem um Demokratie und eine freiheitliche Türkei.“ Vor den Wahlerfolgen um den charismatischen früheren Vorsitzenden Selahattin Demirtas aber habe Erdogan „große Angst gehabt“. „Er fürchtete um seine Macht, daher hat er die Kurden mit Repressionen überzogen.“
Birsen Altinörs sagt nicht, dass der türkischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Islamischen Staat stütze. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin des DEM-Abgeordneten Vezir Parlak, „insofern bin ich wahrscheinlich deutlich gefährdeter, als wenn ich politisch nicht aktiv wäre“, sagt sie. Sie erinnert allerdings daran, dass „der IS nicht nur für den Nahen Osten, sondern auch für Europa und für Deutschland eine große Gefahr bedeutet“. Sie erinnert an die jüngsten Anschläge wie jenen von Solingen, die der IS für sich reklamierte. Die westlichen Länder sähen den Kobane-Prozess „nicht als ihre Sache an“ – sie halte das für falsch. „Die HDP stand immer geschlossen gegen den IS, die Erdogan-Regierung nicht. Wenn Deutschland mit diesem Regime ein großes Flüchtlingsabkommen schließt und nicht klar Stellung bezieht zu den höchst problematischen Verbindungen Erdogans zu radikalen Islamisten, ist das eine bittere Ironie.“
18 Jahre erhielt Alp Altinörs wegen angeblicher „Zerstörung der Einheit des Staates“, viereinhalb Jahre wegen angeblicher „Provokation zur Begehung einer Straftat“. Zu den Verurteilten des Prozesses zählt auch Selahattin Demirtas, der mit Abstand bekannteste kurdische Politiker der Türkei. Der frühere Co-Vorsitzende der HDP wurde zu 42 Jahre und 6 Monaten Haft verurteilt. Westliche Medien berichten vor allem über Demirtas, dessen Bücher in viele Sprachen übersetzt werden.
Über Alp Altinörs, der sich als Marxist und Sozialist bezeichnet, wird vornehmlich in türkischsprachigen Medien und international von einigen politisch meist links stehenden Portalen berichtet. Jüngst bezeichnete Altinörs den Krieg der Israelis im Gaza-Streifen in einer Nachricht aus der Zelle als Genozid. In ähnlichem Wortlaut, wie Erdogan das tut. Sie könne verstehen, dass das aus deutscher Sicht befremdlich klinge, sagt Birsen Altinörs. „Die HDP stand immer auf der Seite unterdrückter Völker, zu denen wir auch die Palästinenser zählen. Aber nicht aus taktischen Gründen, um mit Islamisten zu paktieren wie Erdogan, sondern aus der Erfahrung des kurdischen Volkes heraus, unterdrückt zu werden.“
Die vor allem von Kurden bewohnte Stadt Kobane war im Herbst 2014 von Milizen des IS belagert worden. Erdogan hatte zwischenzeitlich schon die Einnahme der Stadt verkündet, doch die kurdische YPG-Miliz hatte die Stadt im Januar 2015 zurückerobert. Die türkische Armee lieferte sich heftige Gefechte mit der kurdischen YPG, die sie als Terrororganisation einstuft. Die USA unterstützten dagegen die kurdischen Kämpfer im Kampf gegen den IS-Dschihadisten. Rund 200.000 Menschen flohen in der Folge aus Syrien in die Türkei. Viele Angeklagte des Kobane-Prozesses haben zum Teil sehr lange Haftstrafen erhalten. Erdogan hat sich damit vieler unliebsamer Kritiker entledigt, mit den Kurden ein altes Feindbild neu belebt – und einen Konflikt, den er einst befrieden wollte, neu befeuert.
Im Oktober wird das türkische Gericht eine ausführliche Begründung der Haftstrafen für die Angeklagten des Prozesses veröffentlichen, auch jener für Alp Altinörs. „Wir werden dann in Revision gehen – und danach zur Not bis vors Verfassungsgericht“, sagt Birsen Altinörs. Sie sagt das entschieden, kämpferisch. Wohl wissend, dass sie mit Rechtsstaatlichkeit in der Türkei nicht rechnen kann.
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