Wenn Mariam Claren an ihre Mutter denkt, taucht immer die gleiche vertraute Erinnerung auf: Sie sitzt am Computer, vertieft in ihre Recherchen, liest, schreibt. Soweit sich Claren erinnern kann, war das politische Interesse ihrer Mutter Nahid Taghavi Bestandteil ihres Lebens. Bei ihnen zu Hause sei ständig das Wort „Siyaset“ gefallen, farsi für „Politik“, erzählt sie in einem Artikel des „Amnesty Journal“. Ihre Mutter, eine 68-jährige iranisch-deutsche Architektin, hat sich jahrelang für Frauenrechte eingesetzt.
Am 16. Oktober 2020 wird Taghavi während eines Aufenthalts in Teheran festgenommen und dort im berüchtigten Evin-Gefängnis eingesperrt. Sie wird wegen angeblicher Beteiligung an einer „illegalen Gruppe“ und wegen „Propaganda gegen den Staat“ zu zehn Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Die ersten sieben Monate verbringt sie in Isolationshaft. 194 Tage, um genau zu sein. Sie verliert 14 Kilogramm, erkrankt an Diabetes und Bluthochdruck und erleidet mehrere Bandscheibenvorfälle. Taghavi wird „1000 Stunden ohne Rechtsbeistand verhört und weißen Foltermethoden ausgesetzt“, erzählt Claren in einer Pressekonferenz von Amnesty International in Berlin. Als weiße Folter gelten Methoden, die vorrangig die Psyche einer Person zermürben. „Weiß“, weil sie „sauber“ sind. Sie hinterlassen keine physischen Spuren.
Die Menschenrechtsorganisation blickt in ihrem Jahresbericht auf die Weltgeschehnisse von 2022 zurück. Dabei legt sie einen Schwerpunkt auf die Situation im Iran. Claren spricht für ihre Mutter, aber auch für die 22 000 politischen Gefangenen und alle Unterdrückten im Iran. Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 durchlebt das Land eine beispiellose Protestwelle. Die Bewegung ist tief in der Gesellschaft verwurzelt. Ein Ende ist nur denkbar, wenn das Regime stürzt. Clarens Geschichte mit dem Iran fängt zu dem Zeitpunkt an, als ihre Mutter „aufgrund ihres Einsatzes für Frauen“ verhaftet worden ist, berichtet sie in Berlin. „Als meine Mutter festgenommen wurde, ist etwas in mir erwacht. Ich wurde zur Aktivistin – als hätte all das, was sie mir beigebracht hat, in mir geschlummert“, beschreibt Claren im „Amnesty Journal“. Seit der Inhaftierung ihrer Mutter kämpft Claren von Deutschland aus unermüdlich für die Freilassung ihrer Mutter, mit der sie regelmäßig telefoniert.
Nach massivem internationalem Druck erhält Taghavi im Juli 2022 tatsächlich einen medizinischen Hafturlaub. Doch ein paar Monate später muss sie wieder ins Gefängnis. Die erneute Inhaftierung von Taghavi erfolgte unmittelbar auf die Ankündigung der deutschen Bundesregierung, weitere Sanktionen gegen die iranische Regierung zu verabschieden. Ihre Festnahme wie viele andere diene eindeutig politischen Zielen. Taghavi kann als Faustpfand für einen Gefangenenaustausch eingesetzt werden.
Claren wünscht sich jedenfalls eine stärkere Reaktion und eine klare Positionierung der deutschen Regierung gegenüber dem Iran. Und sie und ihre Mutter werden nicht loslassen. Nahid Taghavi sei „eine der stärksten Persönlichkeiten, die es gibt“, unterstreicht Claren in einem Gespräch mit dem Sender SRW2. Vor Gericht habe sie dem Richter in die Augen geschaut und gesagt: „Wenn Propaganda gegen den Staat bedeutet, über die Unterdrückung der Frau, über Armut, Korruption und Umweltzerstörung zu sprechen, dann bin ich schuldig, aber ihr seid viel schuldiger“.
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