Zehn Monate war der Kölner Adil Demirci in Istanbul im Gefängnis — aus fadenscheinigen Gründen. Mittlerweile ist er zurück in Köln und hat ein Buch darüber veröffentlicht. Im Interview redet er über seine Erfahrungen mit der Willkür der türkischen Justiz und wie er es geschafft hat, im Gefängnis viel zu lesen.
Adil, du bist Sozialarbeiter hier in Köln und arbeitest mit Geflüchteten, außerdem bist du freier Journalist. 2018 bist du bei einem Besuch in der Türkei festgenommen worden und hast zehn Monate im Gefängnis verbracht. Was hat man dir vorgeworfen?
Meine Mutter war an Krebs erkrankt und wollte noch einmal die Verwandten in der Türkei besuchen. Ich habe sie begleitet und bin kurz vor meiner Rückreise nach Deutschland verhaftet worden. Der Vorwurf lautete: Terrorverdacht. Das ist in der Türkei ein Standardvorwurf. Bei mir ging es um Teilnahme an Beerdigungen von jungen Kurden und Linken, die im Kampf gegen den IS gefallen waren. Diese Beerdigungen waren aber genehmigt, daran haben teils bis zu 10.000 Menschen teilgenommen.
Wie hat man dich unter all den Teilnehmenden identifiziert?
Das haben mein Anwalt und ich uns auch gefragt. Es gibt Aufnahmen von Überwachungskameras auf der Straße, auf denen ich sehr grob zu erkennen bin. Ich vermute, die Polizei hat mich eher durch die Arbeit für die linke Nachrichtenagentur ETHA identifiziert. Dort habe ich Artikel zur internationalen Politik, die nichts mit der Türkei zu tun hatten, übersetzt. Aber diese Artikel waren niemals Teil der Anklage.
Du erzählst diese Geschichte auch in deinem Buch »Zelle B-28«. Das war die Nummer deiner Zelle im Hochsicherheitsgefängnis Silivri, in dem auch der Journalist Deniz Yücel gesessen hat. Wie muss ich mir dieses Gefängnis vorstellen?
Es besteht aus verschiedenen Bereichen. In meinem waren die »politischen« Häftlinge untergebracht, also Menschen, denen man vorgeworfen hat, mit der PKK zu sympathisieren oder Anhänger der Gülen-Bewegung zu sein. Ich habe meine Zelle mit zwei anderen Gefangenen geteilt. Die Zelle bestand aus zwei Etagen, oben waren die Betten, unten ein Bad und Tische. Einen Fernseher mussten wir uns selbst kaufen. Morgens um acht wurde die Tür zu unserem kleinen Hof aufgeschlossen. Dort konnten wir spazieren gehen oder zu dritt Hockey spielen. Im Winter wurde um 17 Uhr abgeschlossen, im Sommer um 19 Uhr.
Du hattest keinen Kontakt zu Mitgefangenen außerhalb deiner Zelle?
Genau. Wir konnten uns nur auf dem Gang kurz grüßen oder über die Hofmauer hinweg unterhalten. In der Nebenzelle waren Häftlinge aus der Gülen-Bewegung, die schon Gefängniserfahrung hatten. Die haben uns geholfen, uns dort zurecht zu finden. Auch der bekannte Journalist Ahmet Altan war mein Nachbar. Aber eigentlich waren wir da eher isoliert, ich und meine Mithäftlinge Gökhan und Ferhat. Ferhat hat auch bei der linken Nachrichtenagentur ETHA gearbeitet, aber wir haben uns erst im Gefängnis kennengelernt. Gökhan kam später dazu.
Wie habt ihr euren Alltag im Gefängnis gestaltet?
Wir sind um acht geweckt worden und es wurde geschaut, ob nicht einer von uns über Nacht geflohen ist. Dann gab es Frühstück und dann sind wir meistens in den Hof gegangen, um Sport zu machen. Einer der Gülen-Häftlinge, der schon länger im Gefängnis war, hat uns den guten Tipp gegeben: »Wenn ihr im Kreis geht, lauft auch mal in die andere Richtung.« Am Nachmittag haben wir meistens gelesen. Im Knast waren drei Zeitungen erlaubt, außerdem gab es eine große Gefängnisbibliothek, die überwiegend aus Spenden der liberalen Tageszeitung Cumhuriyet bestand. Abends haben wir meistens diskutiert oder gemeinsam ferngesehen, oft Nachrichten oder Talkshows. Die ganze Disziplin hat den Alltag im Gefängnis für uns organisiert. Die einzige Ausnahme haben wir während der Fußball-WM 2018 gemacht. Da haben wir fast alle Spiele gesehen (lacht.)
Trotzdem hast du in deiner Zeit im Gefängnis neunzig Bücher gelesen. Hattest du ein Lieblingsbuch?
Ich habe viel Ahmet Ümit gelesen, der Krimis über Istanbul schreibt. Es war schön, über die Stadtteile von Istanbul zu lesen und sie sich vorzustellen, während man im Gefängnis saß. Und ein Mitarbeiter des Konsulats hat mir Bücher von Frank Schätzing vorbeigebracht. Die habe ich auch weggelesen.
Wie haben dich die Wachen im Gefängnis behandelt?
Die wussten, dass ich Deutscher war und ich vermute, die hatten ihre Anweisungen. Sie haben keine Gewalt angewendet, aber durchaus Witze gemacht. Die Gefangenen, denen man eine Mitgliedschaft bei Gülen vorwarf, wurden anders behandelt als ich. Sie durften zum Beispiel nie mit ihren Anwälten reden, ohne dass ein Wächter dabei war.
Wie konntest du Kontakt zur Außenwelt halten?
Dein Bruder hat in Köln eine Mahnwache organisiert. Hast du davon etwas mitbekommen? Am Anfang war das schwierig. Bis August herrschte ja noch der Ausnahmezustand. Ich durfte nur alle 14 Tage telefonieren und dann auch nicht ins Ausland. Meine Mutter hat sich dann eine türkische SIM-Karte besorgt, um mit mir zu sprechen. Nach dem Ausnahmezustand konnte ich wöchentlich mit ihr sprechen. Einmal im Monat haben mich die Mitarbeitenden des Konsulats besucht und mir Post mitgebracht. Ich wusste also durchaus, dass sich Menschen in Deutschland für mich einsetzen, und das hat mir viel Kraft gegeben.
Du bist schließlich nach mehreren Monaten vor Gericht gestellt worden — mit einer Anklageschrift, die zwei Seiten lang war. Beim ersten Prozesstag gab es kein Urteil, beim zweiten, einige Wochen später, auch nicht. Weitere zehn Tage später wurdest du aus dem Gefängnis entlassen, musstest aber weiter in Istanbul bleiben. Wie fühlt sich das an, in einer Art Freiluftgefängnis zu leben?
Es war gut, draußen zu sein. Aber ich habe mich trotzdem beobachtet gefühlt. Das deutsche Konsulat hatte mir gesagt, es sei nicht ungewöhnlich, dass man in den ersten Wochen von Zivilpolizisten begleitet wird. Die türkische Regierung regiert mit Angst und Einschüchterung. Es kann jederzeit eine Anklage gegen einen eröffnet werden, und deshalb äußert man sich nicht mehr offen, egal ob auf Facebook, Twitter oder gegenüber Verwandten.
Während dieser Zeit hat sich der Gesundheitszustand deiner Mutter weiter verschlechtert. Sie konnte dich noch in der Türkei besuchen, aber ist dann gestorben, ohne dass du dabei sein konntest. Zur Beerdigung im Juni 2019 durftest du endlich nach Deutschland ausreisen.
Ich war zuerst vor allem mit der Beerdigung beschäftigt und habe etwas Zeit gebraucht, bis mir klar war: »Okay, du bist zurück.« Es war anders als vorher. Menschen haben mich auf der Straße und beim Einkaufen angesprochen. Nach zwei, drei Monaten habe ich versucht, zurück in den Alltag zu finden und meinen alten Job wieder aufzunehmen.
Und dann hast du das Buch geschrieben?
Das hat länger gedauert. Ich hatte während der Haft Tagebuch geführt, weil mir das viele geraten haben. Während der Pandemie hatte ich dann die Zeit dafür.
Dein Prozess läuft noch. Musst du für die Verhandlung nach Istanbul?
Nein. Der nächste Prozesstag ist am 15. September, daran werden nur meine Anwälte teilnehmen. Zu einem Urteil wird es vermutlich im Frühling 2022 kommen. Aber ich werde nicht zurückkehren — selbst, wenn ich verurteilt werde.
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