Seit Mai 2016 sitzt der kurdische Journalist Nedim Türfent in Haft, weil er ein Video veröffentlicht hat, das zeigt, wie türkische Polizisten kurdische Bauarbeiter in Handschellen legen, zu Boden drücken und bedrohen. Am 15. Dezember 2017 wurde er zu acht Jahren und neun Monaten Haft wegen „Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung“ verurteilt. Türfent hat es dennoch geschafft, Artikel und Gedichte zu schreiben, die auch die Öffentlichkeit erreichten.
In diesem Bändchen liegen Gedichte und Texte von Türfent in deutscher Übersetzung vor, begleitet von Texten von Kolleg*innen, die zum Teil auch schon Jahre im Gefängnis verbrachten, von Freund*innen und Familie über Begegnungen mit dem im Gefängnis von Van Inhaftierten. Das erste Gedicht gelangte „Über Mauern“, wie der Band heißt, durch Bariş Atltıntaş von der Media and Law Studies Association, die gefährdeten Journalist*innen Rechtshilfe bietet. Sie schrieb im Juli 2018 für „taz-gazete“ einen Bericht über die ersten 800 Tage Haft von Nedim Türfent und veröffentlichte dabei das Gedicht „mensch!“, das inzwischen in sehr viele Sprachen übersetzt wurde. Türfent beschreibt den Menschen im Tiervergleich:
„geschwind wie ein hase, …
klug wie ein esel, …
gedächtnisstark wie ein papagei, …
sensibel wie ein kranich und
tückisch wie eine schlange“, …
„schlüpfrig wie ein chamäleon und
gnadenlos wie eine hyäne“.
Seither, so Atltıntaş, habe sich „der freie Fall der Meinungsfreiheit in der Türkei“ weiter fortgesetzt. Weitere Journalist*innen, Rechtsanwält*innen und andere Erdoğan-Krikiker*innen sind im Gefängnis gelandet. Weitere Gedichte und Texte von Nedim Türfent sind „über Mauern“ gelangt wie die Zeilen „lass dein herz leben spenden“:
„… lass dein herz das zuhause,
das glück sein,
für die, die kämpfen.
lass es der widerstand
des gefangenen im verhörraum sein.
lass dein herz die geduld
der gefangenen sein, deren tage
bis zur freiheit gezählt sind. …“
Einer der begleitenden Berichte stammt von Hüseyin Aykol, der seit Jahrzehnten als Journalist arbeitet und selbst mehr als zehn Jahre im Gefängnis war. Dennoch sieht er seine „Hauptaufgabe darin, über die Situation der politischen Gefangenen zu schreiben“. Mit dem inhaftierten Kollegen versucht er, wie viele von Türfents Weggefährt*innen, brieflich in Kontakt zu bleiben. Wie gefährlich die Situation für Journalist*innen ist, die über die kurdische Region berichten, zeigt die Einschätzung eines anderen Reporterfreunds, Abdurrahman Gök: „Nichts überrascht die Leute mehr: Wir kurdische Journalisten haben uns über die Inhaftierung von Nedim gefreut. Denn wir hatten seine Ermordung befürchtet.“ Aber: „Es gelingt dem Staat nicht, die Gedanken und Ideen unserer inhaftierten FreundInnen zu verhindern oder zu blockieren“,
„in einer zelle, so klein wie eine hand
mit einer sehnsucht, so groß wie die welt“
(Nedim Türfent: „auf der suche nach spuren von dir“).
Wie Türfent schreibt, verfolge die AKP, Erdoğans Partei, nach einer Phase der Lockerung ihrer Kurdenpolitik „seit 2015 eine Politik der reinen Gewalt“, „eine Politik der Angst“. In „unser land“ dichtet Türfent:
„in offiziellen geschichtsbüchern liest man seinen
namen nicht
in der literatur heißt es ‚das land der sonne‘
doch überall im land blut und dunkelheit.“
Inzwischen bereitet Türfents Anwalt Berufung gegen das Urteil vor und will notfalls bis zum Obersten Gericht klagen. Jüngere Urteile in der Türkei erlauben wenig Optimismus. „trotz allem – alles für die hoffnung“, schreibt Türfent im Dezember 2016:
„… die hoffnung aber bleibt
weder fußfesseln noch handschellen
weder ketten noch rostige eisen
noch kackfarbene gitter
können die hoffnung schmälern.
denn aus verzeiflung entsteht hoffnung
unbedingt.
unerbittlich und urplötzlich
wieder und wieder
langsam aus ihrer asche erblühend
hoffnung wie das lächeln der liebsten ….“
„Nedim Türfent ist einer von dutzenden Journalist*innen, die in der Türkei hinter Mauern festgehalten werden, weil der Staat aus ihnen Terrorist*innen macht, um die Pressefreiheit auszuschalten. Aus seinen Gedichten sprechen trotz allem Hoffnung und der Wille, weiterzumachen. Das sollte auch uns ermutigen, nicht nachzulassen in unserer Solidarität für Menschen, die ihr Streben nach Wahrhaftigkeit mit der Freiheit bezahlen“, schreibt Monique Hofmann, Bundesgeschäftsführerin der dju in ver.di auf der Rückseite des Buches.
Ein Artikel von SUSANNE STRACKE-NEUMANN
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