Sechs Jahre sind keine lange Zeit, zumindest wenn man schon etwas älter ist. Eine Wahlperiode, eine Sommer- und Winter-Olympiade, eine Fußball-WM und -EM, das alles war doch praktisch gestern. Sechs Jahre sind eine Ewigkeit, wenn man jung ist. Patrick Kraicker hat mittlerweile ein Sechstel seines Lebens in türkischen Gefängnissen verbracht; verurteilt nach einem Verfahren, das man nach türkischen Maßstäben rechtsstaatlich nennen könnte, nach deutschen Maßstäben aber unfair nennen muss.
Weil der Gießener 2018 in seinem Wanderurlaub in einem türkischen Sperrgebiet an der Grenze zu Syrien aufgegriffen wurde, wirft der türkische Staat ihm vor, er habe sich der kurdischen YPG-Miliz anschließen wollen. Und deshalb wurde er zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt. Im Juni wird er sie vollständig verbüßt haben. Die Chancen sind nicht sehr groß, dass er vorzeitig nach Deutschland zurückkehren kann – im Gegenteil. Patricks Mutter Claudia Schmuck macht sich große Sorgen, dass sich seine Haft aufgrund eines fingierten Vorwands verlängern könnte.
»Es geht ihm körperlich eigentlich sehr gut. Er macht halt das Beste aus seiner Lage«, sagt Schmuck bei einem Treffen in Gießen. »Aber psychisch? Es ist in den vergangenen Wochen sehr viel passiert.« Damit spielt sie auf einen Fernsehbeitrag von »Report München« von Mitte September an, in dem vor allem die mangelnde Unterstützung Kraickers durch deutsche Behörden kritisiert wird und in dem auch Erdogans Intimfeind Deniz Yücel zu Wort kommt. Das jedenfalls hatte Folgen für den 34-jährigen Häftling.
»Nachdem der Fernsehbeitrag ausgestrahlt worden war, hat man ihm das Erste auf seinem Fernseher gesperrt.« Die ARD war der einzige deutsche Fernsehsender, den Kraicker in der Haftanstalt empfangen konnte. Damit hat sich eines der wenigen Fenster in die Heimat geschlossen. »Und wenn es nur der Wetterbericht war, das hat ihm Nähe und damit Halt gegeben«, weiß seine Mutter.
Patrick Kraicker war Mitte vergangenen Jahres völlig überraschend von Istanbul in ein Hochsicherheitsgefängnis nach Ankara verlegt worden. Auch die Hoffnung auf eine vorzeitige Haftentlassung im Dezember 2022 hatte sich zerschlagen. Seine Verteidiger, die bereits Deniz Yücel vertreten haben, hatten eigentlich gehofft, dass Patrick in Istanbul Freigänger werden könne und hatten ihm bereits einen kleinen Job besorgt.
Seine Haftbedingungen sind seit der Verlegung nach Ankara verschärft worden. »Patrick ist von sämtlichen Mithäftlingen isoliert«, berichtet seine Mutter, »selbst beim Hofgang ist er alleine«. Schmuck ist sichtlich angespannt, weil sie längere Zeit keinen Kontakt zu ihrem Sohn hatte. Normalerweise kann sie jeden Donnerstag zwischen 12 und 13 Uhr mit ihm telefonieren. Doch dann hat sich Patrick nicht mehr gemeldet. Angeblich gebe es Satellitenprobleme, heißt es. Bei seiner Mutter löst das »Kopfkino« aus: »Das bringt mir immer eine schlaflose Nacht mehr.«
Von türkischer Seite geht man noch immer davon aus, dass Kraicker wichtige Kontakte zur PKK oder ihrer syrischen Schwesterorganisation YPG hat. »Man wirft ihm vor, dass er auch nach sechs Jahren Haft noch immer keine Namen nennt, aber Patrick kann keinen Namen nennen, weil er nie mit der PKK oder der YPG zusammengearbeitet hat«, betont Schmuck.« Eine absurde Situation sei das. Der türkische Staat fürchte auch, dass ihr Sohn sich nach seiner Freilassung sofort einer kurdischen Widerstandsbewegung anschließen würde. »Das ist Bullshit, mein Junge will nach Hause.«
In dem Land, in dem jedes Jahr Millionen deutsche Urlauber »die schönsten Wochen des Jahres« verbringen, habe ihr Sohn eigentlich nur zwei Wochen wandern wollen. Das ist die Version seiner Familie. Die Beweislage, die zu seiner Verurteilung geführt hat, ist dünn. Kraickers türkische Anwälte schließen aus, dass man die Grenze nach Syrien ohne gute Kontakte und Kenntnis der Lage vor Ort überqueren kann. Die habe Kraicker nicht besessen. Dass er sich der YPG anschließen wolle, ist für seine Mutter ein geradezu hanebüchener Vorwurf. »Patrick war nie beim Bund. Er ist ausgemustert worden.« Ihr Sohn sei weder Kämpfer noch Arzt. Als solchen will ihn ein Zeuge, der im Prozessprotokoll nicht einmal namentlich erwähnt wird, ein Jahr vor seiner Verhaftung im Irak in einem Krankenhaus gesehen haben. Zu dieser Zeit war Kraicker nachweislich in Deutschland.
Zwei Wochen nach seinem Wanderurlaub hätte der arbeitslose Kraicker übrigens einen neuen Job als Kurierfahrer anfangen sollen. In der Arbeitsagentur war er bereits abgemeldet worden. »Das passt doch alles vorne und hinten nicht«, meint seine Mutter kopfschüttelnd. Der versuchte illegale Grenzübertritt wurde vom Gericht dann auch zur Bewährung ausgesetzt. Ins Gefängnis musste Kraicker wegen der versuchten Zugehörigkeit zu einer illegalen Terrororganisation.
Seit fast zwei Jahren stellen seine Verteidiger regelmäßig alle zwei Monate einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung. Alle wurden abgelehnt. Schmucks größte Sorge ist jetzt, dass die Provokationen weitergehen, dass ihr Sohn einknickt und auf der Zielgeraden noch »irgendeinen Scheiß« baut, der einen Vorwand liefert, seine Strafe zu verlängern.
Zu seinen Haftbedingungen äußere sich Patrick nicht, denn immer sei ein Aufpasser bei den Besuchen, aber auch bei Telefonaten anwesend. »Und die stoppen die Zeit. Sind die zehn Minuten um, wird das Telefonat beendet. Letztes Jahr hatte Patrick bei einem der seltenen Besuche seiner Mutter einen Cut über dem Auge. »Als ich nachgefragt habe, hat er nur unter sich geblickt. Damit war das Thema für mich durch.«
Hatte er anfangs mit bis zu 20 Menschen in einer Großraumzelle gesessen, ist in der Einzelhaft die Einsamkeit umso drückender. Neben dem türkischen Fernsehen bleiben da nur Bücher, von denen Kraicker maximal sieben besitzen darf. Und die werden streng kontrolliert. »Nichts darf beschriftet sein. Das könnten ja versteckte Botschaften sein.« Ihr Sohn lese gerne Fantasy-Romane und Thriller, um sich abzulenken. »Er hat wohl vorher noch nie so viele Bücher gelesen wie in der Haft, sogar die Bibel. Er hat sich jetzt eine neue mitgeben lassen, weil er die alte abgeben musste.« Kraicker darf nur fünf Bücher in seiner Zelle haben. Wenn es mehr sind, würden überzählige Titel willkürlich von den Wärtern einkassiert.
Die besten Jahre
Patrick wird im nächsten Jahr 35. »Das sind die besten Jahre im Leben, die gibt einem keiner wieder», meint Claudia Schmuck mit großer Bitterkeit. Alleingelassen fühlt sie sich auch von den deutschen Behörden und von der Politik. Am Anfang hatte sie den damaligen Kanzleramtsminister Helge Braun kontaktiert. »Seine Mama war meine Lehrerin. Da habe ich mir gedacht: Probierst du es mal. Er hat mich auch tatsächlich zwei Tage später angerufen.« Was hat Braun ihr gesagt? »Wir müssen geduldig sein. Die deutsch-türkischen Verhältnisse seien sehr schwierig, da könne man im Moment nicht viel machen.« Kanzlerin Merkel habe den Fall wohl auch in der Türkei angesprochen, doch Erdogan habe ihr gesagt, dass ein Urteil gesprochen wurde, das müsse so akzeptiert werden.
Vom Auswärtigen Amt (AA) habe sie kaum Unterstützung erfahren. »Eine erste E-Mail an Frau Baerbock wurde direkt an das Bürgerbüro weitergeleitet. Und von dort wurde sie zurück ans AA verwiesen. Einen Termin habe sie dann im vergangen Oktober bekommen. »Ich bin da mit einem guten und positiven Gefühl hinausgegangen. Die Ministerialbeamten haben mir gesagt, ich kann mich jederzeit bei ihnen melden, aber da kam nie etwas zurück.«
Wirklich geholfen habe ihr nur der Kölner Verein »Stimmen der Solidarität«, die Kurdische Gemeinde Deutschland um den Gießener Mehmet Tanriverdi und der SPD-Bundestagsabgeordnete Bernd Westphal (SPD) aus Hildesheim, wo Schmuck heute lebt. All ihre Bemühungen hat sie archiviert, »damit mein Sohn im nächsten Jahr sehen kann, was wir alles versucht haben«.
Patrick Kraicker sei nur ein ganz normaler, einfacher Deutscher. Da sei das Engagement des Staates leider nicht so ausgeprägt wie bei prominenteren Häftlingen in der Türkei, sagt im »Report«-Beitrag einer, der es wissen muss. Deniz Yücel hat Claudia Schmuck ein signiertes Exemplar seines Buches über seine Haft in der Türkei geschenkt. Es wartet zu Hause auf Patrick, Yücel hat seiner Mutter gesagt, sie soll es ihm nicht schicken. Es würde doch nicht bei ihm ankommen.
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