Wenn Ilhami Akter mit seinem gelben Taxi durch die Straßen Hamburgs fährt, dann kommen immer wieder Erinnerungen in ihm hoch. „Diese Bilder! Das kann man nie vergessen“, sagt der 49-Jährige, der seit über 30 Jahren in Hamburg lebt und schon lange deutscher Staatsbürger ist. Akter meint die Bilder in seinem Kopf. Von den Soldaten. 500 an der Zahl. Sie kamen am frühen Morgen des 15. August 2018 mit Panzern in sein Heimatdorf nahe der mehrheitlich von Kurden bewohnten Stadt Karakoçan im Osten der Türkei gerollt, wo Akter gerade Urlaub machte und seine Mutter besuchte.
Die Soldaten trugen Maschinenpistolen. Sie durchsuchten die Häuser. Angeblich auf der Suche nach PKK-Anhängern. Als es klingelte und Akter die Tür öffnete, sah er die Läufe der Panzerfahrzeuge auf sich gerichtet. „Wir haben einen Haftbefehl wegen Terrorpropaganda“, bellte der Kommandeur. Mit einem Militärfahrzeug wurde Akter in die Provinzhauptstadt Elâzığ verfrachtet, wo er mit 35 anderen in eine Zelle gesperrt wurde, die eigentlich nur für zehn Personen ausgerichtet war. Allen wurde der gleiche Vorwurf gemacht: Terrorismus und Propaganda. „Das einzige, was ich gemacht habe, ist Zeitungsartikel aus der ,Süddeutschen‘, aus ,Le Monde‘, aus der ,Washington Post‘ über die Situation der Kurden in der Türkei auf Facebook zu teilen“, betont Akter. Nicht einmal kommentiert hatte er die Posts. Das kann er auch belegen.
Für die türkische Justiz war selbst das zu viel. Nach einem Monat in der Zelle wurde Akter zu drei Jahren und 45 Tagen Gefängnis verurteilt. Als die Haft kurz nach dem Urteil vorläufig ausgesetzt wurde, nutzte Akter die Chance und ergriff die Flucht. In einer gefährlichen Nacht- und Nebel-Aktion gelang es ihm, über die Grenze nach Georgien zu fliehen. Von dort ging es zurück nach Deutschland. Es war seine zweite Flucht aus der Türkei. Die erste war 1990, als er 17-jährig vor der Repression gegen die kurdische Bevölkerung floh. Er hatte Schlimmes erlebt. Durchsuchungen, Verhöre, Misshandlungen seines Vaters und seiner Brüder. Sexuelle Belästigungen seiner Schwestern durch Soldaten. Bei der zweiten Flucht 2018 floh Akter nun als Deutscher nach Deutschland. Ilhami hat sein Buch „Verfolgung, Flucht und Solidarität“ nicht nur geschrieben, um die Erlebnisse zu verarbeiten. Sondern auch, um auf die Situation in der Türkei und die anhaltende Unterdrückung der Kurden aufmerksam zu machen.
Kanzlerin Angela Merkel forderte Freilassung deutscher Staatsbürger
„Solange dieses Regime herrscht, wird es keine Gerechtigkeit geben“, sagt Akter. Eine der schönsten Situationen im Gefängnis von Elazig sei es gewesen, als er im Fernsehen Angela Merkel sah, die die Freilassung aller deutschen Staatsbürger forderte. „Das hat mir viel Mut gegeben.“ Das und die Unterstützung seiner Freunde in Hamburg, die zwei Mahnwachen organisierten und an den Bürgermeister schrieben. Doch bis heute, sagt Akter, müsse er viel an seine Mitgefangenen denken, die nicht das Glück einer ausländischen Staatsangehörigkeit hatten.
„Manche von ihnen waren noch sehr jung. Anfang 20. Sie wurden zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Manche sogar zu 90 Jahren! Sie werden im Gefängnis sterben“, fürchtet Ilhami Akter. Der Westen dürfe den Blick nicht abwenden, von den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei.
Akter vermisst seine Familie. Seine Mutter. Er wird nie wieder in die Türkei reisen können, um sie zu besuchen. Er würde sofort verhaftet. Der 49-Jährige, der in Hamburg ein eigenes Taxiunternehmen gegründet hat, will sich in der Hansestadt ein neues Leben aufbauen. Vor einem halben Jahr hat er geheiratet. Seine Frau ist noch jung. Das Paar wohnt in Niendorf. Akter träumt von einer eigenen Familie.
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