Der kurdische Journalist Nedim Türfent saß wegen seiner investigativen Arbeit sechseinhalb Jahre in türkischer Haft. Nach seiner Entlassung im November 2022 und der Ausreise nach Deutschland leben er und seine ebenfalls lange inhaftierte Freundin Özgür Sevinc Simsek seit rund einem Jahr mit einem Stipendium der hessischen Landesregierung in Gießen. Doch aus dem Blickfeld der autoritären Staatsmacht sind die beiden damit nicht geraten. Nun hat Türfent erfahren, dass ein türkischer Haftbefehl wegen »Verbreitung von Terrorpropaganda« gegen ihn vorliegt – wegen vier Posts, die er auf seinem X-Kanal (ehemals Twitter) weitergeleitet hat. Zugleich läuft sein Stipendienprogramm Ende August aus – und damit auch sein deutscher Aufenthaltstitel. Doch in seine Heimat zurückzukehren, ist für ihn angesichts der neuerlichen Verfolgung aktuell keine Option.
Nedim, wann hast du erstmals von dem Haftbefehl gehört?
Vergangenen Mittwoch haben Özgür und ich auf dem Konsulat in Frankfurt davon erfahren. Uns wurde ein beantragtes Dokument verweigert, mit der Begründung, dass in der Türkei ein Haftbefehl gegen uns vorliegt. Ich wusste nichts von den Anschuldigungen und war schockiert. In Gießen schaltete ich tags darauf meinen Anwalt ein. Er fand heraus, dass mich die Staatsanwaltschaft in meiner Heimatstadt Yüksekova der Verbreitung von Terrorpropaganda beschuldigt.
Um was genau geht es?
Als mein Anwalt die Dokumente bekam, erfuhren wir, dass es um vier meiner Posts auf X geht. Die Anschuldigung: Propaganda für eine Terrororganisation. Das ist so dumm wie absurd: Einer der Posts war die Weiterleitung eines Artikels der französischen Tageszeitung Le Monde, in dem ein Foto von Abdullah Öcalan (Führer der PKK, Anm.d.Red.) zu sehen war. Es ist natürlich kein Verbrechen, ein Foto von Öcalan aus einem Artikel weiterzuleiten. Zumal die Regierung mit ihm gerade Friedensverhandlungen führt. Ein weiterer der Posts stammt aus dem Februar: Eine Demo für Öcalan in Straßburg. Darüber berichtete die französische Zeitung Le Parisien. Ich habe auch diesen Artikel weitergeleitet. In diesem Fall ist es für die Anklage ein Verbrechen, Flaggen und Fotos mit Öcalans Gesicht zu zeigen. Das gleiche bei zwei türkischen News-Websites. Ich habe sie weitergeleitet und kommentiert. Öcalan-Fotos in vier Tweets reichen also aus, um ein Haftbefehl gegen einen Journalisten auszustellen.
Das klingt absurd …
Ich hatte über Menschenrechtsverletzungen geschrieben. Über türkische Drohnen, die Zivilisten in Kurden-Gebieten getötet haben. Aus der Perspektive des Staats hätte ich ja verstanden, wenn sie das zum Anlass nehmen. Aber diese vier Tweets.
Es sieht aus, als würdest du auch hier in Deutschland weiter beobachtet und verfolgt. Sollst du wirklich inhaftiert werden oder geht es darum, dass du als Oppositioneller und investigativer Journalist nicht mehr in dein Land zurückkehrst?
Wer weiß das schon? Ein Freund von mir ging nach erhobenen Anschuldigungen in Yüksekova zur Staatsanwaltschaft, um sich zu erklären. Sie haben ihn gleich ins Gefängnis gesteckt. Das könnte mir also auch passieren. So wie es aussieht, wird gerade versucht, journalistische Arbeit in der Türkei zu kriminalisieren. Es wird irgendetwas absurdes herangezogen. Das fällt dann am Ende vielleicht nicht weiter ins Gewicht. Aber vielleicht haben sie noch andere Anschuldigungen gegen mich in der Schublade, die sie nicht veröffentlichen. Wenn du dann einreist, wirst du wegen etwas festgenommen, von dem du gar nichts weißt. Zumal ich zwei Jahre vor meinem offiziellen Haftende vorzeitig entlassen wurde. Diese Bewährungszeit könnte mir also auch noch draufgeschlagen werden. Grundsätzlich fühlt sich die Regierung gestört von jeder Art Kritik. Die Opposition, die kurdische Frage, die Menschenrechte – jeder kann ein Terrorist sein.
Gibt es andere Oppositionelle wie dich im Exil, denen ähnliches passiert ist?
Ja, Özgür gehört dazu. Im Februar wurden mehr als 1000 Leute angeklagt. Auf der entsprechenden Liste sahen wir auch ihren Namen. Auch für sie wäre eine Einreise eine große Gefahr, ebenso wie für andere kurdische Journalisten.
Und all das hat vermutlich mit der verschärften Gesamtsituation in der Türkei zu tun?
Ja. Auf der einen Seite versucht Erdogan gerade, einen Demokratisierungsprozess mit der PKK zu starten. Auf der anderen Seite wird der Druck auf die Opposition erhöht.
Was ist der Plan dahinter?
Keiner weiß es. Niemand kann vorhersagen, was weiter passiert. Eine PKK-Gruppe hat gerade angekündigt, in der Stadt Sulaymaniyah im Irak ihre Waffen abzugeben. Ein symbolisch erster Schritt für den Friedensprozess. Zeitgleich wurden gerade am Wochenende drei oppositionelle Bürgermeister großer türkischer Städte festgenommen. Meine Meinung: Erdogan, der die Mehrheit der Bevölkerung verloren hat, will eine Atmosphäre schaffen, in der er keine Wahlen mehr braucht. Es könnte der russische Weg sein.
Und wie geht es jetzt mit dir weiter?
Ich kann nicht zurück. Aber mein aktueller Status bedeutet auch: Am 1. September läuft mit dem Stipendium »Hafen der Zuflucht« zugleich mein deutsches Visum ab. Özgür und ich haben daher verschiedene Institutionen angeschrieben und hoffen auf deren Hilfe. Es gibt Programme, aber uns läuft die Zeit davon. Vielleicht gibt es auch andere Lösungen: ein Arbeitsvisum, ein humanitäres Visum. Ich hoffe, es findet sich ein Weg.
Die Rückkehr in die Türkei ist keine Option mehr?
Darüber denke ich nicht nach. Alles was mich dort erwartet, ist das Gefängnis.
Ich kann mir kaum ausmalen, wie es sein muss, nach sechseinhalb Jahren ein zweites Mal ins Gefängnis gehen zu müssen …
Es ist hart. Einfach nicht vorstellbar. Klar, ich habe mich als Journalist dazu entschieden, über Korruption, über kurdische Fragen, über Menschenrechte zu schreiben. Und ich wusste, das sind alles rote Linien für die Regierung. Aber sich das Gefängnis vorzustellen, ist das eine. Dann wirklich in diesen vier Betonwänden zu stecken: das ist etwas ganz anderes. Ich traf im Gefängnis Oppositionelle, Journalisten, die zum zweiten Mal drin waren. Sie sagten mir, dass es sehr schwer ist, das alles zu ertragen. Lass uns das also vergessen.
Wie hat deine Familie die neue Situation aufgenommen?
Sie sind schockiert. Sie hatten gehofft, das wir zurückkommen, um unsere Hochzeit zu feiern. Vielleicht schon in diesem Sommer. Jetzt ist alles anders.
Noch eine Frage: Droht die Gefahr, dass dich Deutschland tatsächlich in die Türkei ausliefert?
Glaube ich nicht, aber das ist nicht meine Entscheidung. Jeder weiß, ich bin in Gefahr, denn ich bin ein Journalist.
Die Gewerkschaft Deutsche Journalistinnen und Journalisten Union (dju) warnt vor einer möglichen Auslieferung Nedim Türfents an die Türkei. Einem Auslieferungsgesuch sollen die deutschen Behörden nicht stattgeben. »Wer aus politischen Gründen verfolgt wurde und in Deutschland Schutz gefunden hat, darf nicht an einen Staat ausgeliefert werden, der kritischen Journalismus als Terrorismus verfolgt und Pressefreiheit systematisch unterdrückt«, sagt dju-Bundesgeschäftsführerin Danica Bensmail laut einer Pressemitteilung. Der Umgang des türkischen Staats mit Medienschaffenden verletze grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien.
Die in England angesiedelte Menschenrechtsorganisation Index on Censorship hat unterdessen einen Offenen Brief veröffentlicht, in dem ebenfalls die Zurücknahme des türkischen Haftbefehls gegen Nedim Türfent gefordert wird (www.indexoncensorship.org). Mittlerweile haben sich mehr als 40 internationale Organisationen dieser Forderung angeschlossen, darunter sind etwa Human Rights Association, PEN America sowie die Association of European Journalists (AEJ).
Link zum Interview: https://www.giessener-anzeiger.de/stadt-giessen/tuerkischer-haftbefehl-gegen-in-giessen-lebenden-journalisten-93828159.html