Als der kniffligste Fall gilt Enver Altayli. Der 73-Jährige Doppelstaatler ist seit 16 Monaten in Einzelhaft und hat eine pikante Vergangenheit: Früher arbeitete er für den türkischen Geheimdienst. Inzwischen betreibt die Familie eine Ferienanlage bei Antalya. Seine Frau Onur macht sich Sorgen um den Gesundheitszustand ihres schilddrüsenkranken Mannes. Ob die Verhaftung etwas mit seiner früheren Agententätigkeit zu tun hat – da kann sie nur mutmaßen. Bis die Türkei und Russland sich wieder annäherten, habe es keine Probleme gegeben. „Sie haben meinen Mann sogar in manchen Sachen um Rat gebeten. Dann plötzlich diese Wende – wir können das nicht erklären.“ Genaueres weiß sie nicht, weil immer noch keine Anklageschrift vorliegt.
So geht es auch den meisten anderen deutschen Gefangenen und deren Angehörigen, wie etwa der Familie von Dennis E. aus Hamburg, der in der südtürkischen Provinz Hatay festgenommen wurde. Der 55-Jährige hatte Prokurdisches gepostet – jedoch nichts, was Gewalt oder Terror verherrliche, sagt seine Familie. Ebenfalls um angebliche Propaganda für kurdischen Terror geht es bei Hozan Cane, so der Künstlername einer kurdischen Musikerin aus Köln. Sie wurde festgenommen, als sie im türkischen Wahlkampf an der Seite der prokurdischen HDP unterwegs war. Ihr wird sogar Mitgliedschaft in der verbotenen PKK vorgeworfen.
Patrick Kraicker – sein Name sticht heraus, denn der Hesse hat keinen türkischen Hintergrund. Der 29-Jährige war im März in der Südtürkei nahe der syrischen Grenze festgenommen worden. Kraicker selbst gab an, er sei zum Wandern in die bergige Region gekommen. Die türkischen Behörden glauben ihm das nicht. Sie werfen dem Gießener vor, er habe sich der Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien anschließen wollen, entsprechende Belege wollen sie auf Kraickers Handy ausgemacht haben. Seiner Mutter sagte er bei einem Telefongespräch, er sei geschlagen und gefoltert worden.
Maas-Besuch bewirkte nichts
Bei seinem Besuch in der Türkei drei Wochen hatte Bundesaußenminister Heiko Maas den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bereits auf die deutschen Häftlinge angesprochen. Die Hoffnungen, nach seinem Besuch könne Bewegung in die Fälle kommen, zerschlug sich. Einzig für Adil Demirci gibt es einen Prozesstermin – aber der stand auch schon vor Maas‘ Mission. Der 30-Jährige muss sich ab dem 20. November wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor Gericht verantworten. Er hatte von Deutschland aus für die linke türkische Nachrichtenplattform Etha gearbeitet. Auch Mesale Tolu hatte für Etha geschrieben und übersetzt. Sie durfte die Türkei inzwischen verlassen.Zumindest vorübergehend nicht mehr zur Riege der politischen Gefangenen gehört Ilhami Akter. Der 46-jährige Taxifahrer aus Hamburg ist bereits zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Bis zum Berufungsverfahren ist er auf freiem Fuß, darf aber nicht ausreisen.Onur Altayli, die Ehefrau des ehemaligen Geheimdienstlers setzt ihre letzte Hoffnung die Bundesregierung: Diese solle sich für seine Freilassung engagieren – und durchsetzen.So wie Onur Altayli werden auch die andere Angehörigen der Gefangenen den Besuch Erdogans in Deutschland genau verfolgen.
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