Der bekannte Menschenrechtsanwalt und Ehrenvorsitzende des Vereins progressiver Jurist:innen (ÇHD), Selçuk Kozağaçlı, wurde am Mittwochabend aus der Haft entlassen – nur um keine 24 Stunden später erneut inhaftiert und in das Marmara-Gefängnis bei Silivri überstellt zu werden. Der Fall sorgt in der Türkei wie auch international für Empörung, da er exemplarisch für die anhaltende Repression gegen oppositionelle Stimmen im Land steht.
Ein kurzer Moment der Freiheit
Kozağaçlı, der seit November 2017 inhaftiert war und 2019 wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation zu elf Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, ist am 16. April vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Die Entlassung erfolgte auf Grundlage der Drei-Viertel-Regelung; die Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Kolleg:innen und Unterstützer:innen empfingen ihn am Gefängnistor – es war ein seltener Moment der Freude nach langer Zeit politischer Inhaftierung. Doch die Freude währte nicht lange: Nur einen Tag später hob ein Gericht in Istanbul die Freilassung auf. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ordnete es die sofortige Rückführung Kozağaçlı in das berüchtigte Marmara-Gefängnis an.
Umstrittene Begründung der Rückkehr in die Haft
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft habe Kozağaçlı nicht die erforderliche Zahl von 40 erreicht, die nach dem Punktesystem der Bewertung des Gefangenenverhaltens Voraussetzung für eine vorzeitige Entlassung ist. Seine Bewertung lag demnach bei 37,75 Punkten – damit fehlten ihm lediglich 2,25 Punkte. Als weitere Gründe führte die Staatsanwaltschaft an, dass Kozağaçlı in der Haft mehrfach disziplinarisch auffällig geworden sei, unter anderem wegen des Kontakts zu anderen politischen Gefangenen sowie wegen empfangener Dokumente, die im Gefängnis verboten seien. Zudem fehle es nach Ansicht der Behörden an Anzeichen für eine „glaubhafte Distanzierung“ von der ihm zur Last gelegten Mitgliedschaft in einer „terroristischen Organisation“.
Das zuständige Strafvollstreckungsgericht, das Kozağaçlı am Tag zuvor noch freigelassen hatte, revidierte seine Entscheidung und ordnete seine erneute Inhaftierung an. Die vierzehn Monate, die Kozağaçlı von Januar 2013 bis März 2014 aufgrund derselben Terrorvorwürfe ohne Urteil im Gefängnis verbringen musste, waren in die Haftstrafe nicht eingeflossen.
Symbolfigur im Kampf für Rechtsstaatlichkeit
Selçuk Kozağaçlı, Träger des Hans-Litten-Preises 2014, gilt als eine der profiliertesten Stimmen im Kampf um Menschenrechte und juristische Integrität in der Türkei. Als Anwalt vertrat er unter anderem die Angehörigen des 54-jährigen Metin Lokumcu, der 2011 bei Protesten gegen Recep Tayyip Erdoğans Wahlkampfveranstaltungen in der Schwarzmeerküstenregion getötet wurde, als die Polizei Tränengas einsetzte. Außerdem engagierte er sich im Fall des 15-jährigen Berkin Elvan, der bei den Gezi-Protesten 2013 von einer Tränengaspatrone am Kopf getroffen wurde und nach neun Monaten im Koma verstarb. Er vertrat auch dıe Hinterbliebenen der Toten des Grubenunglücks von Soma sowie Überlebende und Opferangehörige des Anschlags von Pirsûs (tr. Suruç).
Seine Inhaftierung im Jahr 2017 war international scharf kritisiert worden. Menschenrechtsorganisationen sprachen von einer politisch motivierten Justiz und einem Missbrauch des Antiterrorrechts zur Einschüchterung kritischer Stimmen. Der Verein ÇHD, dessen Ehrenvorsitzender Kozağaçlı ist, steht ebenfalls seit Jahren unter Druck und wurde mehrfach Ziel strafrechtlicher Verfolgung. Der Grund: der ÇHD übernimmt vorwiegend politische Mandate, alle seine Mitglieder waren an erfolgreichen Prozessen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Türkei beteiligt.
Breite Kritik aus der Zivilgesellschaft
Die erneute Inhaftierung von Kozağaçlı hat unter Menschenrechtsverteidiger:innen, Jurist:innenverbänden und zivilgesellschaftlichen Gruppen Bestürzung ausgelöst. Kritisiert wird vor allem das willkürliche Vorgehen der Justiz, das nicht nur gegen rechtsstaatliche Prinzipien, sondern auch gegen die Menschenwürde verstoße. Der Fall wird von vielen als weiteres Beispiel für den Abbau des Rechtsstaats in der Türkei gesehen – insbesondere im Hinblick auf die Behandlung politisch engagierter Anwält:innen und Aktivist:innen. Die DEM-Partei etwa bewertet die juristische Begründung der Wiedereinkerkerung als „konstruiert, unverhältnismäßig und politisch motiviert“.
Quelle: https://anfdeutsch.com/menschenrechte/nach-einem-tag-in-freiheit-menschenrechtsanwalt-erneut-inhaftiert-45975